Ein ganzer Film, der fast nur in den letzten Gedanken eines sterbenden Mannes spielt. So könnte man "Die Dinge des Lebens" zusammenfassen. Pierre, den Michel Piccoli spielt, lebt gerade in vollen Zügen, mehr als je zuvor. Dann rauschen die letzten Stunden vorbei und die Gedankenfetzen, die sie prägten: Wie er seine Frau verlassen hat für Hélène (Romy Schneider), wie er zu ihr zurückwill, einen Abschiedsbrief schreibt, und die Liebe zu Hélène dann doch so überwältigt, dass er gar nicht anders kann, als doch zu ihr zu fahren. Den Abschiedsbrief in der Jacketttasche, verunglückt er. Es steht darin, warum er zu seiner Frau zurückwollte: Weil er und Hélène nur eine Zukunft haben, aber keine Vergangenheit und keine Erinnerung. 1969 drehten Piccoli und Schneider diesen Film mit Claude Sautet, und damals war der versponnene, ewig politisierende Intellektuelle Piccoli ein echterFilmstar.
Schauspieler zu werden war noch eine andere Sorte von Traum, als Michel Piccoli sich dafür entschied. Der Zweite Weltkrieg war gerade vorüber, und in den Pariser Cafés ließen die Intellektuellen eine neue Welt in ihren Köpfen entstehen. Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, das war das Umfeld, in dem Michel Piccoli, ein junger Bühnenschauspieler, sich bewegte. Der Surrealist Luis Buñuel war das Kaliber von Regisseur, für den Piccoli Meilen gegangen wäre. Er lud ihn zu sich ins Theater ein. Es war für beide eine ziemlich wegweisende Begegnung, obwohl sie erst einige Jahre später zusammen drehten. Und Michel Piccoli reiste dafür bis nachMexiko.
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"Der Tod in diesem Garten" war 1956 die erste Zusammenarbeit, und ohne diesen Film hätte es "Belle de Jour" (1967) oder "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" (1972) vielleicht gar nicht gegeben. Er habe sich nie, hat Piccoli 1979 gesagt, wirklich für den Inhalt einer Rolle interessiert - sondern immer nur für den ganzen Text, den man ihm vorlegte, und für die Regisseure, mit denen er die Geschichte zum Leben erweckensollte.
Er lebte zurückgezogen, damit er besser hinter seinen Rollen verschwinden konnte
Michel Piccoli, am 27. Dezember 1925 in Paris als Sohn eines Musikerpaars geboren, wurde in einer Epoche unsterblich, als das, was heute als Arthouse-Kino gilt, noch als der Gipfel des Olymps galt, und es gibt kaum einen anderen Schauspieler, der bei so vielen Filmen dabei war, die bald als Klassiker galten - die Filme mit Buñuel, "Das große Fressen" (1973) mit Marco Ferreri, "Blutige Hochzeit" (1973) mit Claude Chabrol, oder eben "Die Dinge des Lebens" mit Claude Sautet, aber vorher noch jenen Film, der ihm zum Durchbruch verhalf: "Die Verachtung" (1963) mit Brigitte Bardot, und von Jean-LucGodard.
Michel Piccoli war selbst davon überzeugt, dass es einen bestimmten Typus von Rolle gab, der ihm besonders lag - zerrissene, verzweifelte Figuren, die versuchen, sich selbst zu verstehen. Schon Buñuel hatte ihn gelehrt, die Männer in den Filmen, die sie gemeinsam drehten, nach dem Ebenbild des Regisseurs zu formen. Und Piccoli tat das sehr oft. Wohl auch, als er den Autor Paul Javal spielte. "Godards ,Die Verachtung' ist eine völlig autobiografische Arbeit", so Piccoli. "Er beschreibt einen Augenblick der Verzweiflung, der Selbstinspektion in Bezug auf die Liebe, Literatur, Kino, Geld ... nur ist er ein so diskreter Mann, dass ich ein Problem damit habe, über ihn zureden."
Piccoli war dreimal verheiratet, und er war zwar kein Geheimniskrämer - in seinen Memoiren enthüllte er gar, dass er eine Affäre mit Romy Schneider gehabt habe -, aber er lebte einigermaßen zurückgezogen, vielleicht, damit er besser hinter seinen Rollen verschwindenkonnte.
"Dieser Beruf braucht die Farce. Wenn man von seiner eigenen Persönlichkeit bezaubert ist, von sich selbst, oder vom Publikum oder der Kamera - der Schauspieler ist von Haus aus unbescheiden, aber er ist sich auch des Komischen bewusst", hat Piccoli einmal gesagt. "Ich bevorzuge den italienischen Ausdruck "io faccio l'attore". Die Italiener sagen nicht "Ich bin Schauspieler", sie sagen "io faccio l'attore". Ich würde diese Idee gern zu ihrem logischen Ende führen und nur wie eine Marionettespielen."
Die Erinnerungen kamen Piccoli bald abhanden, wie er in seiner 2015 erschienenen Autobiografie beklagte
Das Zerrissene, die Angleichung an den Schöpfer der Rolle - dabei ist Michel Piccoli solange geblieben, wie er Filme drehte. Der Papst, der sein Heil in der Flucht sucht in "Habemus Papam" (2011) von Nanni Moretti, ist so ein Fall. Dem wird die Last seiner Aufgabe zu viel, also verschwindet er, und Nanni Moretti hat man seither auch nicht mehr oftgesehen.
Die Erinnerungen kamen Piccoli bald abhanden. Schon in seiner 2015 erschienenen Autobiografie beklagte er das und schrieb, für einen Schauspieler sei das das Schlimmste. Man hatte ihn im Jahr zuvor zuletzt in einem Film gesehen, in Thomas de Thiers "Le Gout desmyrtilles".
Am 12. Mai ist Michel Piccoli mit 94 Jahren an einem Schlaganfall gestorben, wie sein Freund Gilles Jacob, früher Präsident des Festivals von Cannes, mitteilte. Es sind gar nicht mehr viele Leinwandlegenden übrig. Und jedes Mal, wenn eine von ihnen geht, wird das Kino ein bisschenkleiner.